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Stille, denn ich konnte selbst ihre Einwendungen nicht ganz für leer oder eigennützig halten. Ich war
von jeher gewohnt, meine Einsichten unterzuordnen, und doch wollte diesmal meine Überzeugung
nicht nach. Ich flehte zu meinem Gott, auch hier mich zu warnen, zu hindern, zu leiten, und da
mich hierauf mein Herz nicht abmahnte, so ging ich meinen Pfad getrost fort.
Philo hatte im ganzen eine entfernte Ähnlichkeit mit Narzissen; nur hatte eine fromme Erziehung
sein Gefühl mehr zusammengehalten und belebt. Er hatte weniger Eitelkeit, mehr Charakter, und
wenn jener in weltlichen Geschäften fein, genau, anhaltend und unermüdlich war, so war dieser klar,
scharf, schnell und arbeitete mit einer unglaublichen Leichtigkeit. Durch ihn erfuhr ich die innersten
Verhältnisse fast aller der vornehmen Personen, deren Äußeres ich in der Gesellschaft hatte
kennenlernen, und ich war froh, von meiner Warte dem Getümmel von weiten zuzusehen. Philo
konnte mir nichts mehr verhehlen: er vertraute mir nach und nach seine äußern und innern
Verbindungen. Ich fürchtete für ihn, denn ich sah gewisse Umstände und Verwickelungen voraus, und
das Übel kam schneller, als ich vermutet hatte; denn er hatte mit gewissen Bekenntnissen immer
zurückgehalten, und auch zuletzt entdeckte er mir nur so viel, daß ich das Schlimmste vermuten
konnte.
Welche Wirkung hatte das auf mein Herz! Ich gelangte zu Erfahrungen, die mir ganz neu waren.
Ich sah mit unbeschreiblicher Wehmut einen Agathon, der, in den Hainen von Delphi erzogen, das
Lehrgeld noch schuldig war und es nun mit schweren, rückständigen Zinsen abzahlte, und dieser
Agathon war mein genau verbundener Freund. Meine Teilnahme war lebhaft und vollkommen; ich
litt mit ihm, und wir befanden uns beide in dem sonderbarsten Zustande.
Nachdem ich mich lange mit seiner Gemütsverfassung beschäftigt hatte, wendete sich meine
Betrachtung auf mich selbst. Der Gedanke: »Du bist nicht besser als er«, stieg wie eine kleine
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Wolke vor mir auf, breitete sich nach und nach aus und verfinsterte meine ganze Seele.
Nun dachte ich nicht mehr bloß: »Du bist nicht besser als er«; ich fühlte es und fühlte es so, daß ich
es nicht noch einmal fühlen möchte: und es war kein schneller Übergang. Mehr als ein Jahr mußte ich
empfinden, daß, wenn mich eine unsichtbare Hand nicht umschränkt hätte, ich ein Girard, ein
Cartouche, ein Damiens, und welches Ungeheuer man nennen will, hätte werden können: die Anlage
dazu fühlte ich deutlich in meinem Herzen. Gott, welche Entdeckung!
Hatte ich nun bisher die Wirklichkeit der Sünde in mir durch die Erfahrung nicht einmal auf das
leiseste gewahr werden können, so war mir jetzt die Möglichkeit derselben in der Ahnung aufs
schrecklichste deutlich geworden, und doch kannte ich das Übel nicht, ich fürchtete es nur; ich fühlte,
daß ich schuldig sein könnte, und hatte mich nicht anzuklagen.
So tief ich überzeugt war, daß eine solche Geistesbeschaffenheit, wofür ich die meinige anerkennen
mußte, sich nicht zu einer Vereinigung mit dem höchsten Wesen, die ich nach dem Tode hoffte,
schicken könne, so wenig fürchtete ich, in eine solche Trennung zu geraten. Bei allem Bösen, das ich
in mir entdeckte, hatte ich ihn lieb und haßte, was ich fühlte, ja ich wünschte es noch ernstlicher zu
hassen, und mein ganzer Wunsch war, von dieser Krankheit und dieser Anlage zur Krankheit erlöst
zu werden, und ich war gewiß, daß mir der große Arzt seine Hülfe nicht versagen würde.
Die einzige Frage war: Was heilt diesen Schaden? Tugendübungen? An die konnte ich nicht
einmal denken; denn zehn Jahre hatte ich schon mehr als nur bloße Tugend geübt, und die nun
erkannten Greuel hatten dabei tief in meiner Seele verborgen gelegen. Hätten sie nicht auch wie
bei David losbrechen können, als er Bathseba erblickte, und war er nicht auch ein Freund Gottes,
und war ich nicht im Innersten überzeugt, daß Gott mein Freund sei?
Sollte es also wohl eine unvermeidliche Schwäche der Menschheit sein? Müssen wir uns nun
gefallen lassen, daß wir irgendeinmal die Herrschaft unsrer Neigung empfinden, und bleibt uns bei
dem besten Willen nichts andres übrig, als den Fall, den wir getan, zu verabscheuen und bei einer
ähnlichen Gelegenheit wieder zu fallen?
Aus der Sittenlehre konnte ich keinen Trost schöpfen. Weder ihre Strenge, wodurch sie unsre
Neigung meistern will, noch ihre Gefälligkeit, mit der sie unsre Neigungen zu Tugenden machen
möchte, konnte mir genügen. Die Grundbegriffe, die mir der Umgang mit dem unsichtbaren Freunde
eingeflößt hatte, hatten für mich schon einen viel entschiedenern Wert.
Indem ich einst die Lieder studierte, welche David nach jener häßlichen Katastrophe gedichtet
hatte, war mir sehr auffallend, daß er das in ihm wohnende Böse schon in dem Stoff, woraus er
geworden war, erblickte, daß er aber entsündigt sein wollte und daß er auf das dringendste um ein
reines Herz flehte.
Wie nun aber dazu zu gelangen? Die Antwort aus den symbolischen Büchern wußte ich wohl: es
war mir auch eine Bibelwahrheit, daß das Blut Jesu Christi uns von allen Sünden reinige. Nun aber
bemerkte ich erst, daß ich diesen so oft wiederholten Spruch noch nie verstanden hatte. Die
Fragen: Was heißt das? Wie soll das zugehen? arbeiteten Tag und Nacht in mir sich durch. Endlich
glaubte ich bei einem Schimmer zu sehen, daß das, was ich suchte, in der Menschwerdung des
ewigen Worts, durch das alles und auch wir erschaffen sind, zu suchen sei. Daß der Uranfängliche
sich in die Tiefen, in denen wir stecken, die er durchschaut und umfaßt, einstmal als Bewohner
begeben habe, durch unser Verhältnis von Stufe zu Stufe, von der Empfängnis und Geburt bis zu
dem Grabe, durchgegangen sei, daß er durch diesen sonderbaren Umweg wieder zu den lichten
Höhen aufgestiegen, wo wir auch wohnen sollten, um glücklich zu sein: das ward mir, wie in einer
dämmernden Ferne, offenbart.
O warum müssen wir, um von solchen Dingen zu reden, Bilder gebrauchen, die nur äußere Zustände
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